Wo hört der Genuss auf und wo beginnt die Sucht?
Als ich an Silvester beschlossen habe, den Januar ohne Alkohol zu begehen, habe ich mich mehr mit dem Thema auseinandergesetzt. Sensibilisiert wie ich war, ist mir aufgefallen, wie selbstverständlich Alkohol in unserem Land ist. Kaum ein Film oder eine Serie vergeht, ohne das getrunken wird. Es ist wohl ein wenig so wie wenn man schwanger wird und überall andere Schwangere sieht. Nur dass ich eben überall Trinkende gesehen habe. Wer keinen Alkohol trinkt, muss sich mehr erklären als es die machen, die regelmäßig zum Glas oder zur Flasche greifen.
Mittlerweile ist der Januar vorbei und ich habe bis heute keinen Alkohol mehr getrunken. Aus einem nüchternen Januar wird nun die 200 Tage-Marke, die ich mir virtuell verdient habe. Es gibt natürlich auch die passenden Apps für so ein Vorhaben. Nun kenne ich richtig viele Sorten alkoholfreies Bier und mag die sehr gerne. Einzig der Wein fehlt hier und da, aber der Verzicht ist nicht so tragisch, wie ich dachte. Spoiler: Alkoholfreier Wein ist gar nicht mal so gut.
Ich fühle mich gut ohne Alkohol und klar, ein wenig stolz bin ich auch.
Denn wirklich davon loskommen wollte ich eigentlich gar nicht. Aber es tut gut.
Und just in diesen Monaten stolperte ich im Internet über Frank,
der ebenfalls bei Veit Lindau seine Ausbildung gemacht und sich auf Abstinenz spezialisiert hat.
Kein Zufall dachte ich und bat Frank zum Interview über seine Arbeit.
Frank, danke das du dir Zeit nimmst für ein Interview - du bist Abstinenz- Coach, was bedeutet das?
Sehr gerne, ich freue mich über das Gespräch. Es bedeutet im Grunde, dass ich mich auf Fragen der Abstinenz spezialisiert habe, also wie kann zufriedene Abstinenz nachhaltig gelingen. Abstinenz kommt im Ursprung von abstinere, was „sich von etwas fernhalten, etwas weglassen“ bedeutet. Hier geht es mir nicht ausschließlich um die klassischen Suchterkrankungen, wenngleich dies auch mein persönlicher Background ist, sondern vielmehr um die Frage, wo gibt es ein „Zuviel“ in deinem Leben.
Wo gibt es Verhaltensweisen und Strukturen, die Dir bei der persönlichen Entfaltung im Wege stehen? Wo könnte ein, evtl. auch zeitlich begrenzter, Verzicht hilfreich sein.
Als Motto könnte man formulieren:
Lass weg, was Dir schadet und kultiviere, was Dich nährt!
Ich habe mal gelesen, dass “Sucht” im übertragenen Sinne von “suchen” kommt - ist da was dran? Warum glaubst du, sind so viele Menschen süchtig?
Ja unbedingt passt der Begriff der Suche.
Allerdings nicht vom Wortstamm her ( suht- von siech(en). Es ist also eher eine Interpretation. Doch im Grunde passt das schon. Wenn wir davon ausgehen, dass jeder Mensch auf der Suche nach seinem Platz in dieser Welt ist, dann kann die Such-(t) als misslungener Versuch gesehen werden, diesen Platz zu finden und einzunehmen.
Dies kann, auch medizinisch gesehen, wiederum viele Gründe haben.
Ich bin überzeugt, dass es schon immer Menschen gegeben hat, die ihren Platz nicht finden konnten und diesen „Mangel“ durch missbräuchlichen Konsum ausgeglichen haben.
Doch die offiziellen Zahlen zeigen, dass es einen deutlichen Zuwachs an psychischen Erkrankungen gibt. Ich möchte an diesem Punkt das Thema auch etwas weiter fassen und nicht nur von den klassischen Abhängigkeitserkrankungen sprechen. Auch Burn-Out muss in diesem Zusammenhang benannt werden. Das krankhafte „immer mehr, immer weiter, immer besser“ unserer Gesellschaft und die Folgen dessen.
Auch hier versuchen die Menschen ja nichts weiter, als einen adäquaten Platz für sich zu finden.
Grundsätzlich bin ich überzeugt, dass wir in unserer leistungs- und konsumorientierten Gesellschaft geradezu Sucht, bzw. süchtiges Verhalten provozieren.
Ich denke schon, dass es heutzutage um ein vielfaches schwieriger ist, den eigenen Platz zu finden.
Von klein auf sind wir konfrontiert mit schier unendlichen Möglichkeiten und Optionen.
Alles ist so verlockend, interessant und verspricht sofortige Bedürfnisbefriedigung.
Gleichzeitig brechen alte soziale Strukturen weg.
Ich merke das ja auch in meiner Arbeit und in Gesprächen darüber.
Den meistem ist es erst einmal suspekt, das ich dazu einlade, etwas wegzulassen, sich zu reduzieren etc. Das widerspricht unserer Konsumhaltung. Ich finde es sehr positiv zu sehen, dass es momentan sehr unterschiedliche Bewegungen und Strömungen gibt, die dieses, oft blinde und unreflektierte Konsumverhalten, in Frage stellen und nach Alternativen suchen.
Erich Fromm hat das bereits Mitte der 70 er in seinem Buch „Haben oder Sein“ thematisiert.
Die Idee ist also nicht unbedingt neu.
Magst du uns etwas über deine eigene Sucht und die Überwindung erzählen?
Ja, sehr gerne. Im Grunde komme ich schon aus einer süchtigen Familie, habe das also „von der Pike“ auf gelernt und mitbekommen. Zudem bin ich mit einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte zur Welt gekommen, was bestimmte Phasen in meinem Leben, hier vor allem die Pubertät, massiv beeinflusst hat.
Ein Thema, dass auch für meine Eltern sehr schambesetzt war.
Die „Missbildung“ des eigene Kindes braucht eine besondere emotionale Auseinandersetzung.
Ich habe 1995 eine klassische Langzeittherapie, mit Schwerpunkt Alkoholabhängigkeit, gemacht.
Damals waren 6 Monate noch die Regel.
Ich habe im Vorfeld gut zwei Jahre gebraucht, um an diesen Punkt zu kommen.
Eine Situation, die ich auch heute noch immer wieder in der Arbeit mit Süchtigen erlebe.
Es braucht Zeit, bis die finale Entscheidung manifestiert wird.
Im Grunde weiß „man“ schon lange, dass der eigene Konsum nicht mehr im „Normbereich“ liegt.
Damit aber tatsächlich dann raus zu gehen, es öffentlich zu machen und damit die Chance auf Veränderung zu schaffen braucht oft noch einen langen Weg und leider auch oft viel Leidensdruck.
Kannst du dich noch an den Moment erinnern, an dem du beschlossen hast, Abstinenz-Coach zu werden?
Ich wollte eigentlich nach den Jahren in der klassischen Suchtarbeit mit all den frustrierenden Erlebnissen, vor allem in der Arbeit mit Substituierten, eigentlich nichts mehr mit Suchtarbeit zu tun haben.
In dem Projekt waren die Menschen noch sehr nah am Stoff, viele starben in der Zeit und im Grunde hatten die Wenigsten eine stabile Abstinenzentscheidung.
Für mich war es gefühlt eher eine „Überlebensentscheidung“.
Natürlich war das ab und an auch der Schritt in ein neues Leben.
Doch insgesamt eher ernüchternd.
Hier kam ein sehr deutlicher Impuls während meiner integralen Coaching Ausbildung zum Tragen.
Es ging es natürlich irgendwann auch um die Frage der Positionierung auf dem Markt und damit auch um die Frage nach den persönlichen Kernkompetenzen.
Ebenso die Frage nach der persönlichen Authentizität.
Und ich habe für mich festgestellt, dass ich sehr wohl noch mit dem Thema der Sucht verbunden war und bin. Allerdings war auch klar, dass es mir nicht mehr um den Weg aus der Sucht ging, sondern um die Frage, wie der nachfolgende Weg in die Abstinenz begleitet und unterstützt werden kann.
Wir sind sehr gut und sehr professionell in der Arbeit mit Suchtkranken aufgestellt.
Auch der Bereich der Prävention ist stark vertreten.
Doch wenn man sich anschaut, welche Betreuung für den weiteren Weg da ist, dann wird es dünn. Natürlich gibt es von allen Trägern in ganz Deutschland sehr gut
organisierte Beratungsstellen. Wird es schwierig, bleibt jedoch oft nur der Weg über die Suchthilfe.
Im Grunde geht es mir um die Begleitung von Menschen in Krisensituationen im Sinne einer persönlichen Potentialentfaltung.
Die Möglichkeit, seine vollen PS auf die Strasse zu bringen.
Nicht nur im Rahmen einer manifesten Suchterkrankung.
Dies ist aber sicherlich mein inhaltlicher und persönlicher Schwerpunkt.
Die 8 Säulen zeigen auf, wie ich arbeite und diese lassen sich auch auf andere Lebensbereiche und Fragen ausdehnen.
Du sprichst von Salutogenese, was ist das und warum verfolgst du diesen Ansatz?
Die Salutogenese ist im Grunde nur ein Teil des Konzeptes und steht für die grundsätzliche Haltung im Umgang mit dem Wunsch nach Abstinenz (Ursprung ist die Arbeit von Aaron Antonovsky, siehe Abb.)
Die klassische Suchtbehandlung geht im Wesentlichen vom pathologischen Ansatz aus (Pathologie-die Lehre der Krankheit), also der Frage warum, wie auf welche Art eine Erkrankung entstanden ist.
Das ist im Grunde der schulmedizinische Ansatz.
Salutogenes ist, kurz formuliert, der Weg der Gesundung.
Die einen möchten Krankheit überwinden, ich möchte Gesundung/Genesung manifestieren. Ich gehe mit meinem Konzept den Weg der Selbstermächtigung.
Ich versuche aufzuzeigen, warum die Abstinenz ein lohnenswertes Konzept ist und unterstütze dabei, dieses Konzept so lebendig und so „sexy“ wie möglich umzusetzen.
Was ist der Unterschied zwischen Abstinenz und zufriedener Abstinenz?
Für mich ist die einfache Unterscheidung die Frage, ob ich mich mit der Entscheidung einer abstinenten Lebensführung inhaltlich, emotional kontinuierlich auseinandersetze, oder ob ich „nur“ etwas weglasse.
Zufriedene Abstinenz bedeutet für mich, in allen relevanten Lebensbereichen so gut aufgestellt zu sein, dass ich mich in einem gewissen „Flow“ befinde und mich nicht, aufgrund meiner Abstinenz, im Mangel zu fühlen.
Empfinde ich diese Entscheidung (der Abstinenz) als anstrengend, schwierig, lästig, unbefriedigend und hadere ich ich ständig damit ( -> in der klassischen Behandlung wäre hier der „Suchtdruck“ zu nennen), dann war ich noch nicht in der Lage meine Abstinenz entsprechend aufzustellen.
Natürlich ist das kein einfacher Prozess, zumal es ja tatsächlich Auswirkungen auf alle Lebensbereiche haben wird. Doch ist die Entscheidung letztendlich sehr lohnenswert.
Vervollständige bitte folgende Sätze:
Beruflicher Erfolg...
ist nicht alles im Leben, aber auch ziemlich cool ;-) Und ich wünsch mir definitiv noch mehr davon
Gute Entscheidungen treffe ich...
Ich treffe Entscheidungen. Gut ist ja mal relativ. Jedoch treffe ich meine Entscheidungen (zu) oft noch spontan und damit meine ich nicht intuitiv oder aus dem Bauch heraus, sondern schlicht zu schnell, ohne auf Bauch und Kopf zu hören ;-) . Das ist bei manchen Fragen nicht immer die beste Wahl.
In stressigen Zeiten finde ich Balance...
Da gibt es nicht „das eine Patentrezept“. In manchen Momenten ist es Stille, Ruhe und für mich alleine sein. Und ab und an auch körperliches Ausagieren, Tanzen ist da zum Beispiel wundervoll.
Um einen Perspektivenwechsel vorzunehmen...
Sind Gespräche mit anderen Menschen, vielleicht auch Andersdenkenden“ sehr hilfreich. Und vielleicht einmal genau das tun, was man sich so gar nicht vorstellen kann, durch einen Workshop oder Seminar oder, oder, oder.
Meine größte Leidenschaft...
Momentan ganz stark meine Workshops und meine AquaHealing Sessions.
Mit allen Sinnen Leben erfahr- und erspürbar machen. Ich liebe es, mich zu bewegen und in Kontakt mit Menschen zu sein.
Lieber Frank - ich danke dir für den spannenden Einblick in dein Leben und Wirken!
Mehr über Frank und seine Arbeit findest du hier.
TATSINN ist ganzheitliche Begleitung & Consulting für Mensch & Unternehmen. Perspektivwechsel und Entscheidungshilfe. In Berlin & weltweit per Skype mit der Potentialentwicklerin Ann-Carolin Helmreich.
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