Wenn ich zurückblicke, bereue ich nicht, mich selbstständig gemacht zu haben.
Mein Tag und mein Leben laufen wesentlich selbstbestimmter als noch zu Zeiten in denen ich angestellt war. Natürlich ist Selbstständigkeit nicht in allen Belangen etwas für mich, es gibt auch Aspekte, die wirklich schwierig sind. Ich muss mich viel erklären und Menschen verstehen auch nicht immer auf Anhieb was ich tue. Sie stellen mir sehr direkte Fragen wie "Kann man davon leben?", die man Menschen in Anstellung nicht fragt, auch wenn es dort oft angebracht wäre. Ich kann mir nicht ohne weiteres eine neue Wohnung in Berlin anmieten oder einen Kredit aufnehmen, da Selbstständige leider immer noch für ihren unternehmerischen Mut in unserem Finanzsystem abgestraft und als Risiko eingestuft werden.
Dabei kann man als angestellter Mensch ja auch seinen Job ganz plötzlich verlieren.
Doch fernab von der ganzen Sicherheits-Thematik ist es vor allem das Thema Zeit, das mich gerade umtreibt. Es gibt keinen bezahlten Urlaub und kein festes Wochenende. Niemanden, der dir sagt, dass es nun mal genug ist oder auch, dass es an der Zeit wäre, mehr zu tun. Nur mich selbst.
Und genau da sind wir bei dem Punkt, der mir in den letzten Monaten sehr zu schaffen gemacht hat.
Meine Arbeit ist anders als die von jemandem mit 40h Vertrag.
Wenn man es grob einteilen möchte, gibt es direkt vergütete Zeit und Zeit, in der ich arbeite, aber nicht aktiv Geld verdiene. Das ist schonmal der wichtigste Unterschied. Ich bin viele Jahre so geprägt gewesen, dass egal was ich im Büro mache, das Geld fließt. Ganz gleich, ob ich einen super produktiven Tag hatte oder es einer dieser Tage ist, an dem man eher die Maus von links nach rechts schiebt und nicht wirklich etwas gelingen will.
Ich arbeite an Sichtbarkeit und bleibe oft unsichtbar
Gerade am Anfang einer Selbstständigkeit ist der prozentuale Anteil an Stunden, die man arbeitet und dafür direkt entlohnt wird, sehr niedrig. Und man muss kein betriebswirtschaftliches Genie sein um zu wissen, dass es gilt, genau diesen Anteil höher zu machen.
Hier genau liegt meine Herausforderung.
Dinge wie Blog schreiben, die eigene Website mit Infos anreichern, Facebook-Gruppe moderieren, auf Instagram eine neue Runde FAQ zu starten, einen Newsletter verfassen - das sind Dinge, die ich ohne Bezahlung mache. Ich zeige der Welt, wie ich denke und arbeite und es fühlt sich manchmal nach Marketing, aber eigentlich immer nach Arbeit an. Jetzt ist Arbeit bei mir kein negativ besetztes Wort, im Gegenteil. Ich arbeite gerne und ich arbeite auch gerne viel. In den letzten Monaten habe ich gemerkt, dass mir etwas fehlt.
Einerseits ist es wohl die überwältigende Resonanz auf meine Bemühungen (du glaubst gar nicht, wie sehr mich ein Like oder ein Kommentar freut, weil er sichtbar macht, dass ich in dieser Flut da draußen von dir wahrgenommen werde). Es fühlt sich komisch an, wenn man einen Instagram-Beitrag postet, für den man erst ein Bild bearbeitet, dann eine Story dazu schreibt, die richtigen Hashtags setzt und dann puff - eine Stunde später drei Likes dafür hat. Und dann scrollt man so durch die anderen Profile und sieht hunderte und tausende von Likes und Kommentare für Inhalte, die nicht besonders viel Aussagekraft haben oder Menschen zum Nachdenken anregen.
Oft frage ich mich, woran das liegt.
Ob ich etwas falsch mache.
Ob man nur wahrgenommen wird, wenn man entweder sein ganzes Leben ins Netz stellt oder viel Geld für Werbung ausgibt. Beides nicht so mein Ding.
Also einfach weitermachen. Hoffen, dass es sich lohnt.
Oft freue ich mich einfach alleine drüber und das reicht mir.
Mit jedem Menschen, der meine Reise begleitet und mir Wind unter die Flügel pustet, wird es leichter.
Mich selbst, meine Gedanken und Impulse in die Welt zu tragen, das macht immer noch sehr viel Spaß, auch wenn ich manchmal frustriert bin, weil ich gerne noch so viel mehr Menschen begleiten möchte.
Loslassen und Ausruhen passt nicht zu meinem Glaubenssatz
Wenn diese Spirale sich dreht, merke ich oft, dass mir schwindlig wird. Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich nichts tue. Das liegt wohl an einem Glaubenssatz aus der Kindheit. In meiner Familie wird immer viel getan, gerne mal bis zur Erschöpfung. Vor allem für Andere. Ich habe das voll übernommen und merke, wie sehr dieser Glaubenssatz "Wenn du etwas (für andere) tust, bist du wertvoll" mich einerseits vorangetrieben hat und mir ein Leben mit wunderbaren Einblicken beschert hat. Andererseits spüre ich auch, dass mich dieser Glaubenssatz regelmäßig in die psychische Erschöpfung treibt.
Loslassen und ausruhen, wirklich nur für mich da zu sein und nicht nochmal eben kurz...das ist wirklich schwierig für mich. Eine Möglichkeit, damit umzugehen, ist es sich aktiv zu erlauben.
Den Glaubenssatz zu überschreiben und eine "Erlauberin" zu verfassen.
"Ich darf mich ausruhen und loslassen, damit mich Fülle erreichen kann". Das hat vor allem mit Vertrauen ins eigene Können zu tun. Mit Loslassen um zu Empfangen.
Wenn ich das selbst nicht schaffe, was immer wieder der Fall ist, wird oft meine Partnerin aktiv und bremst mich liebevoll in meinem Aktionismus. Sie hat im Gegensatz zu mir gar kein Problem damit, so ein richtiger Faulbär zu sein und das zu feiern, ohne schlechtes Gewissen. Das macht mich machmal echt neidisch. Ich hingegen kann zwar super faul sein, aber nicht ohne diese innere Kritikerin, die mir sagt, dass das gerade nicht die Lösung ist. Das ich wieder was tun sollte. Das ich nicht still stehen kann.
Pause einlegen - lieber mit doppelter Kraft als mit halber voraus
Würde jemand bei mir in der Beratung so eine Situation schildern, wäre mir immer klar, was zu tun ist. Doch nicht jeder Arzt ist der gesündeste Mensch und genauso ist es auch in meinem Berufsfeld.
Ich musste erstmal lernen, dass ich nicht ein perfektes Leben leben muss, um Coach für andere zu sein.
Im Gegenteil - meine Struggle und Ängste, Sorgen und Probleme sind genauso da wie bei jedem anderen Menschen auch. Ich habe vielleicht ein paar mehr Tools, um sie zu beleuchten, aber auch ich suche mir dann Unterstützung durch Coaches und Therapeuten. Meine Probleme verbinden mich mit meinem Gegenüber und ich erzähle auch gerne in Sessions, wie ich persönlich mit einem Thema umgegangen bin um es zu bewältigen oder dass ich ganz ähnliche Ängste habe wie die, die ich gerade erzählt bekomme.
Zwei Stimmen in meiner Brust - welche wird gewinnen?
Deshalb schreibe ich nun auch so offen über meine aktuelle Gefühlslage.
In meinem Kopf sagt eine Stimme "Du darfst dich nicht ausruhen, du musst für mehr finanzielle Sicherheit sorgen und außerdem neue Projekte gewinnen und Menschen für Coaching bei dir begeistern".
Diese Stimme ist seeeehr mächtig. Sie gewinnt oft.
Die andere Stimme (gerne auch ersatzweise durch meine Partnerin verkörpert) sagt:
"Hey, wenn du so weiter machst, weißt du wo das hinführt. Ruhe dich aus, sammle dich, verbringe Zeit weit weg von allen Verpflichtungen und komme genährt wieder".
Es fällt mir nicht leicht, aber die Auszeit-Stimme hat gewonnen.
Ich brauche eine Zeit lang neue Eindrücke, ein fremdes Land und Abstand von allem, was mich hier umtreibt. Ich will das Leben und die Liebe leben und feiern.
Also habe ich nun eine Auszeit von fünf Wochen geplant. In wenigen Tagen geht's los und ich werde vom 23. August bis zum 28.September 2019 mal weg sein.
In den Weiten der kanadischen Westküste neue Ideen schmieden, Kraft tanken, meine Mitte wieder kalibrieren und genährt zurück kommen.
Natürlich werde ich dort oft den Impuls bekommen, nur mal eben ne kleine Insta-Story zu posten, einen kurzen Blog-Beitrag zu schreiben oder etwas anderes zu machen, nur mal eben kurz.
Ich werde es mir nicht verbieten. Aber ich erlaube mir auch nicht, ein schlechtes Gewissen zu zelebrieren. Jetzt geht's mal um mich.
Wer viel mit Menschen arbeitet und viel zuhört, der braucht Raum für sich.
Langsam checke auch ich das.
Gefällt mir nicht immer. Auch nicht, dass ich mit Mitte zwanzig ganz anders getickt habe.
Aber hey, ich hab's jetzt wirklich verstanden und dieser Blogbeitrag soll mir dabei helfen.
Er soll mein Zeuge sein.
Du sollst mein Zeuge, meine Zeugin sein.
Ich bin dann mal kurz weg.
Hab's fein bis dahin.
Und frag dich mal, wann du so richtig vom Gas runter gegangen bist, um dich wieder zu spüren.
Vielleicht tut dir so eine Auszeit ja auch ganz gut.
Alles (ist) Liebe
Ann-Carolin
TATSINN hilft Menschen und Organisationen dabei, gute Entscheidungen zu treffen, neue Perspektiven einzunehmen und Potential zu entfalten.
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